Bei den Europawahlen im Juni 2024 wird es neben Fragen bezüglich der wirtschaftlichen Steuerung der EU in Normalzeiten insbesondere um das Management der EU in Krisenzeiten gehen. Damit ist nicht allein die Entwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik im Zuge geopolitischer Krisen angesprochen, sondern auch die Zwischenbilanz und künftige Nutzung der jüngsten Kriseninstrumente. Sind etwa der Wiederaufbaufonds NextGenerationEU (NGEU) und das Kurzarbeitsprogramm SURE geeignete Blaupausen für ein dauerhaftes Kriseninstrumentarium der EU?

„Trial and Error“ ist eigentlich keine Strategie in einer Krise. Mangels Einigkeit und unter Zeitdruck war die EU jedoch in den letzten Wirtschaftskrisen gezwungen, auf diese Art und Weise vorzugehen. In der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 rettete jeder Mitgliedstaat seine eigenen Bankinstitute und legte nationale Konjunkturproramme auf. Ideen der französischen Regierung für einen EU-Bankenfonds waren damals nicht mehrheitsfähig. In der Eurokrise von 2010 bis 2015 hat die EU mit dem Prinzip der konditionierten Solidarität eine einheitliche Reaktion auf den Weg gebracht: Kreditlinien aus europäischen Rettungsfonds gegen einen verordneten Austeritätskurs im wirtschaftspolitischen Anpassungsprogramm betroffener Länder. Auch weil die Konsequenzen dieser Politik in Teilen verheerend waren und die sozioökonomische Spaltung der EU vertieft haben, wurde in der Pandemie ab 2020 ein gänzlich neuer Ansatz im Krisenmanagement verfolgt. Eine gemeinschaftliche Verschuldung zur Ausreichung von zweckgebundenen Krediten und Zuschüssen nach Kriterien der wirtschaftlichen Bedürftigkeit und ohne weitere Auflagen bei zeitgleicher Lockerung der budgetären Restriktionen hatte es zuvor noch nicht gegeben in der Geschichte der EU.

Nach den gesammelten Erfahrungen dieser drei schweren Krisen wäre es politisch fahrlässig, nach dem Auslaufen der nur temporär wirksamen Instrumente einfach zur Tagesordnung aus Vorkrisenzeiten überzugehen. Dann bestünde die reale Gefahr erneuter Ad-hoc-Entscheidungen, begleitet von Streit um den richtigen Kurs unter den Mitgliedstaaten und innerhalb der EU-Institutionen. Welche Lehren sind aus der Krisengovernance der EU zu ziehen?

Erstens, in großen, die Grenzen der Mitgliedstaaten überschreitenden Wirtschaftskrisen geht es nur gemeinsam. Mit Goethes Aphorismus „Ein jeder kehre vor seiner Tür, und rein ist jedes Stadtquartier“ kommen wir nicht weiter in einer eng verflochtenen Wirtschaftsunion, in der die Krise der Einen Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung der Anderen hat. Das ist die Lehre aus der Finanz- und Wirtschaftskrise.

In der Krise die Nachfrage abzuschneiden ist seit Reichskanzler Heinrich Brünings Austeritätspolitik keine gute Idee.

Zweitens, starre Reglements können in der Anwendung auf unterschiedliche wirtschaftliche Gegebenheiten das Gegenteil des erwünschten Ziels herbeiführen. Ein Sparkurs bezüglich öffentlicher Ausgaben mag in einigen Staaten gerechtfertigt sein, in anderen würgt er die Wirtschaftskraft ab. Entscheidend ist der jeweilige Konjunkturzyklus: In der Krise die Nachfrage abzuschneiden ist seit Reichskanzler Heinrich Brünings Austeritätspolitik keine gute Idee. Das ist die Lehre aus der Eurokrise.

Drittens, im Krisenmanagement der Pandemie wurde dagegen gezielt reagiert auf die wirtschaftlichen Probleme eines zeitgleichen Angebots- und Nachfrageschocks. Nach heutigem Stand war das Kurzarbeiterprogramm SURE ein Erfolg, der geholfen hat, europaweit die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten, während das 750 Milliarden-Programm NGEU den Mitgliedstaaten nicht nur konjunkturell, sondern vor allem strukturell hilft, dringend nötige Investitionen umzusetzen, etwa in der grünen und digitalen Twin-Transformation.

Abseits der ökonomischen Effekte von SURE und dem Krisenprogramm NGEU ist die soziale Entwicklung der EU während der Krisenbekämpfung wichtig. Der explosionsartige Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit und der Armutsgefährdung hat in vorherigen Krisen zu kontroversen Debatten um die soziale Zukunft der EU geführt. In der Pandemie war das EU-Krisenmanagement nicht mehr blind auf dem sozialen Auge. Deutlich ist die Abkehr vom Austeritätskurs aus den Zeiten der Eurokrise. Die neue Krisengovernance peilt soziale Ziele an, deren Erreichen erstmals durch die Bereitstellung finanzunterlegter Instrumente nicht allein dem Konjunkturverlauf überlassen wird.

Mit dem Sozialgipfel in Porto im Mai 2021 verstärkte die EU ihre Bemühungen, die soziale Dimension in der Pandemie zu beachten, und lenkte zugleich den Blick auf die explizit sozialen Herausforderungen der ökologischen und digitalen Twin-Transformation. Die Europäische Kommission nutzt die Europäische Säule sozialer Rechte als Instrument hierfür und räumt in einem entsprechenden Aktionsplan deren Umsetzung hohe Priorität ein. In Porto verständigten sich die Mitgliedstaaten auf quantitative Zielvorgaben bis zum Jahr 2030 für drei übergeordnete Sozialindikatoren in den Bereichen Beschäftigung, Weiterbildung und Armutsbekämpfung.

Das soziale Europa tritt auf der Stelle.

Die Kommission hat durch Stärkung der sozialen Säule die soziale Dimension der EU-Krisenpolitik in einen höheren Rang gehoben, denn die quantitativen Zielvorgaben ergänzen die bereits in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung bestehenden Zielwerte für die Ausgaben der Mitgliedstaaten im Rahmen von NGEU. Doch während SURE eine direkte soziale Wirkung über die Beschäftigungssicherung erzielt, bleibt die Nutzung von NextGenerationEU für soziale Investitionen unter den Mitgliedstaaten erratisch.

Im Social Scoreboard, das die soziale Säule begleitet, weisen die meisten in den einzelnen Mitgliedstaaten als „kritisch“ eingestuften Indikatoren zuletzt auf das gesunkene verfügbare Haushaltseinkommen, den Anstieg der Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung von Kindern, die nur schleppende Armutsreduktion durch die sozialen Sicherungssysteme sowie die hohe Rate der vorzeitigen Schul- und Ausbildungsabbrüche hin. Dies zeigt, wie die Krisen der letzten Jahre die Ungleichheit verstärken und die Wohlfahrtsstaaten vor Herausforderungen stellen.

Im Zeitvergleich zwischen der Proklamation der sozialen Säule im November 2017 und den im Social Scoreboard fünf Jahre später veröffentlichten Werten zeigt sich einerseits, dass sich die soziale Situation seit 2017 im ungewichteten Durchschnitt der Mitgliedstaaten stetig verbessert hat – trotz schwerer pandemiebedingter Wirtschaftskrise. Andererseits haben sich in lediglich sechs Staaten konkrete Verbesserungen gegenüber dem EU-Durchschnittswert in einzelnen Indikatoren ergeben. Das soziale Europa tritt auf der Stelle.

Eine überzeugende Alternative zu supranationalen Programmen besteht darin, die budgetäre Restriktion für die Mitgliedstaaten in der Krise zu reduzieren.

Die soziale Säule scheint dort am meisten Wirkung zu entfalten, wo sie durch ergänzende finanzunterlegte Maßnahmen begleitet wird. Dazu gehören das Kurzarbeitsinstrument SURE oder die Bereitstellung zusätzlicher Finanzmittel für soziale Investitionen und Reformen im Rahmen von NGEU. Kurzfristig sollte die EU den Erfolg von SURE als schnelles, konjunkturell und sozial wirkendes Instrument zur Förderung von Kurzarbeitsmodellen fortschreiben. Durch seine Bereithaltung würde ein wichtiger Reaktionsmechanismus für künftige schwere Wirtschaftskrisen geschaffen, dessen Wirkung sich noch steigern ließe durch den Ausbau zu einem automatischen Stabilisator im Sinne einer Europäischen Arbeitslosenrückversicherung.

Auch das NGEU-Paket hat im Ansatz einige positive Weichenstellungen der Mitgliedstaaten ermöglicht. Für bestimmte konsensfähige Ziele europäischer Politik (etwa die soziale Begleitung der Twin-Transformation) könnte ein Anschlussfonds oder ein Sondertitel im nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen vereinbart werden, um soziale Investitionen zu finanzieren. Eine überzeugende Alternative zu supranationalen Programmen besteht darin, die budgetäre Restriktion für die Mitgliedstaaten in der Krise zu reduzieren, wie mit der temporären Aussetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts demonstriert worden ist. Solche finanziellen Spielräume in den Mitgliedstaaten sollten mitgedacht werden, wenn der Stabilitäts- und Wachstumspakt im Rahmen der Reform der wirtschaftspolitischen Governance angepasst wird. Zukunftsinvestitionen ebenso wie die Wohlstandsorientierung müssen dabei hinreichend Berücksichtigung finden, etwa über die sogenannte Goldene Regel.

Wie mit dem Aktionsplan zur sozialen Säule begonnen, sollten weitere soziale Ziele von den Mitgliedstaaten vereinbart werden. Die heute oft mangelhafte Befassung der nationalen Parlamente mit den sozialen Problemen und Herausforderungen des eigenen Landes im europäischen Vergleich könnte angeregt werden durch die unlängst in Brüssel diskutierte Idee eines Sozialen Konvergenzinstruments, das die Ratspräsidentschaften Spaniens und Belgiens vorantreiben. Das neue Instrument würde das Sozialmonitoring der EU verbessern, indem Abweichungen von den Durchschnittswerten intensiver analysiert würden und einen Frühwarnmechanismus auslösen könnten. Die Ähnlichkeit zur budgetären und makroökonomischen Überwachung in der Eurozone ist bewusst gewählt. Sie verspricht zumindest mehr Aufmerksamkeit für die sozialen Fragen, wie bereits bezüglich der verwandten Idee eines Sozialen Stabilitätspakts einmal diskutiert worden ist.