Der große Bruch in der europäischen Sicherheitsarchitektur ereignete sich im Februar 2022 durch Russlands Aggression gegen die Ukraine. Vorher hatte man in Europa immer noch gehofft, mit den Minsker Abkommen eine friedliche Lösung zu finden. Doch das heutige Russland, so die allgemeine Einschätzung, ist auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euro-atlantischen Raum. Deshalb auch die rasche Entscheidung für ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen für die Bundeswehr.

In Reaktion auf den russischen Angriff gelobten NATO und EU uneingeschränkte Solidarität mit der Ukraine und versprachen ihre politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung. Die Rüstungsproduktion wurde in vielen Ländern Westeuropas hochgefahren. Mehr und mehr NATO-Mitgliedsländer verpflichteten sich, ihre Militärausgaben auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) zu steigern, entsprechende Vorkehrungen wurden von den meisten Staaten bereits getroffen. Mit Finnland und Schweden kamen zudem zwei neue NATO-Mitglieder dazu. Es sollte alles getan werden, um Moskau in die Schranken zu weisen und sich vor Russlands imperialen Ambitionen zu schützen.

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde zumindest die Notwendigkeit einer einheitlichen EU-Sicherheits- und -Rüstungspolitik gebetsmühlenartig wiederholt. Aber allzu oft wurden typische EU-Kompromisse vereinbart, die die offensichtlichen Brüche und Spaltungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU kaum verschleiern können. Es bleibt eine offene Frage, ob die EU wirklich ihre eigene Rolle in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik finden wird. Der im März 2022 vereinbarte Strategische Kompass der EU verspricht „einen ehrgeizigen Aktionsplan für die Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU … und einen Quantensprung nach vorn“. Dazu sei es notwendig, nachzurüsten und die Lücken in den Verteidigungskapazitäten so schnell wie möglich zu schließen. Aber gibt es überhaupt ein europäisches oder ein NATO-Defizit?

Laut offiziellen Zahlen der NATO wuchsen die Militärausgaben von NATO-Europa plus Kanada zwischen 2015 und 2022 in jedem einzelnen Jahr. Das Wachstum schwankte real zwischen 1,6 und 5,9 Prozent. Im Jahr 2023 wuchsen die Budgets sogar um 8,3 Prozent. Die europäischen NATO-Länder und Kanada haben ihre Budgets von 235 Milliarden US-Dollar im Jahr 2014 auf geschätzte 380 Milliarden US-Dollar im Jahr 2024 erhöht – eine Steigerung um mehr als 60 Prozent. Die Gesamtausgaben der NATO, einschließlich der USA, erreichten im Jahr 2024 zusammen 1 160 Milliarden US-Dollar.

Vergleicht man diese Entwicklungen und Trends mit den russischen Militärausgaben, ergibt sich ein interessantes Bild. In den letzten zehn Jahren hat Russland jährlich rund vier Prozent seines BIP für das Militär ausgegeben (mehr als doppelt so viel, wie die NATO jetzt anstrebt). 2022 belief sich das russische Budget für die Streitkräfte auf 86,4 Milliarden US-Dollar. Der russische Verteidigungshaushalt ist drastisch gestiegen und wird im Jahr 2024 auf etwa 109 Milliarden US-Dollar geschätzt, knapp ein Drittel des gesamten Staatshaushalts. Aber allein der Verteidigungsetat der europäischen NATO-Länder ist größer als der gesamte russische Staatshaushalt. Obwohl die Militärausgaben eine schwere Belastung für die russische Wirtschaft darstellen, die inzwischen weitgehend auf Kriegswirtschaft umgestellt ist, sind die Ausgaben der NATO in Europa und Kanada dreieinhalb Mal höher. Mit den neuen NATO-Mitgliedern Finnland und Schweden ist die negative militärische Bilanz Russlands noch ausgeprägter. Russlands Militärausgaben belaufen sich auf lediglich zehn Prozent der Ausgaben der NATO, wenn man die US-Ausgaben mit einbezieht. Allein Frankreich (53,6 Milliarden US-Dollar) und Deutschland (55,8 Milliarden US-Dollar) haben 2022 insgesamt so viel ausgegeben, wie Russland jetzt plant.

Die Erklärungen und Versprechungen für eine eigenständige europäische Politik und deren Umsetzung klaffen weit auseinander.

Gemessen an diesen Zahlen hat es nie ein Defizit gegenüber Russland gegeben und gibt es, trotz aller Anstrengungen Moskaus, auch heute nicht. Selbst wenn die unterschiedliche Kaufkraft in Russland und in der NATO berücksichtigt wird, zeigt sich ein deutliches Übergewicht der NATO. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die Zahl der Soldaten oder die Ausrüstung mit Kampfflugzeugen, Kampfpanzern, Raketen, Kriegsschiffen und U-Booten vergleicht. Schließlich waren Russlands Streitkräfte nicht in der Lage, die als schwach eingestufte Ukraine sofort erfolgreich zu besetzen. Dass die NATO rein quantitativ betrachtet hoch überlegen ist, wird aber kaum thematisiert.

Warum also das Narrativ, dass Europa nicht in der Lage sei, sich selbst zu verteidigen? Warum schrillen die Alarmglocken in Westeuropa, wenn Donald Trump verkündet, wer nicht bezahlt, wird „von uns“ nicht verteidigt? Ist Europa ohne Unterstützung der USA wirklich nicht fähig, sich konventionell gegen Russland zu verteidigen? Dass die Europäer tatsächlich zu einer eigenständigen Rüstungs- und Verteidigungspolitik nicht in der Lage sind, wird durch viele international bedeutsame militärische Aktionen der letzten Jahrzehnte bestätigt. Im Kosovokrieg 1999 erwiesen sich die Europäer als unfähig, ihre völkerrechtlich problematische Politik ohne die USA durchzusetzen. Die Evakuierung der westlichen Truppen aus Afghanistan 2021 endete im Chaos. Die Europäer waren auf die Lufttransportkapazitäten der USA angewiesen. Auch die militärisch gestützte EU-Sahelpolitik endete kürzlich mit einem Misserfolg und dem Rückzug der Streitkräfte.

Der Hauptgrund für die jahrzehntelange Unfähigkeit der Westeuropäer, im Rahmen der EU oder im europäischen Teil der NATO strategische Autonomie zu erzielen, die der französische Präsident Emmanuel Macron seit Langem fordert, ist die unkoordinierte, weitgehend national orientierte Rüstungs- und Verteidigungspolitik – und eben nicht die angeblich fehlenden finanziellen Mittel. Denn in den vergangenen Jahrzehnten wurden in Europa Unmengen von Geldern bereitgestellt. So liegt Deutschland auf Platz 6 der Weltrangliste bei den Militärausgaben. Dennoch heißt es, die Bundeswehr stehe „blank“ da, sie sei „kaputtgespart“ worden. Was ist eigentlich aus den mehr als 3 000 Milliarden US-Dollar geworden, die die europäischen NATO-Länder in den letzten zehn Jahren für ihre Streitkräfte aufgewendet haben?

Die Erklärungen und Versprechungen für eine eigenständige europäische Politik und deren Umsetzung klaffen weit auseinander. Nach wie vor ist die Verteidigungspolitik in der EU höchst umstritten. Die jüngsten Diskussionen um die Möglichkeiten des Einsatzes europäischer Bodentruppen in der Ukraine bestätigen die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Kaum hatte der französische Präsident diese Möglichkeit ins Gespräch gebracht, zerfiel die EU in zwei Lager: in Befürworter und vehemente Gegner.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hätte das endgültige Aus für eine national ausgerichtete Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa sein müssen. Doch das Gegenteil ist der Fall, wie auch der Streit um die Möglichkeit zeigt, einen EU-Kommissar für Verteidigung zu schaffen. Die in allen europäischen Ländern erklingenden Rufe nach mehr Waffen ist reine Symbolpolitik. Es ist eine Ersatzhandlung, um nicht die wirklichen Konsequenzen aus dem Ukrainekrieg ziehen zu müssen. Es ist symbolischer Aktionismus, mit dem die gescheiterten gemeinsamen Konzepte und Strategien kaschiert werden.