Seit fast 800 Tagen russischer Vollinvasion kämpft die Ukraine um ihr Überleben. Russland ist derzeit in der Offensive und greift immer erfolgreicher die ukrainische Energieinfrastruktur an – Angriffe, welche von den Ermittlerinnen und Ermittlern des Internationalen Strafgerichtshofs als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet werden. Gleichzeitig stellen die westlichen Unterstützerstaaten der Ukraine kaum genug Artilleriegranaten oder Flugabwehrraketen für ihre Verteidigung zur Verfügung. Angesichts der schwierigen militärischen Lage der Ukraine, der klammen Haushaltslage auch in Deutschland und der politischen Spannungen rund um die US-Hilfen sieht es dieser Tage nicht danach aus, als ob die Verbündeten die notwendigen Mittel aufbringen könnten, um die Ukraine in den nächsten Monaten und Jahren massiv zu unterstützen. So schaffen es die europäischen Verbündeten bis heute nicht, die drei Milliarden Euro für die 800 000 Artilleriegranaten der tschechischen Munitionsinitiative aufzutreiben.

Auch deswegen wird in Europa seit Monaten darüber gestritten, ob und wie die eingefrorenen Vermögen der russischen Zentralbank in Höhe von knapp 300 Milliarden US-Dollar für die Ukraine genutzt werden könnten. Grundsätzlich besteht innerhalb der G7-Staaten und der EU Einigkeit, dass Russland die eingefrorenen Vermögen der Zentralbank nicht wiederbekommen wird, bis es Reparationen an die Ukraine leistet. Doch es gibt auch skeptische Stimmen. Gerade in Deutschland heißt es oft, dass die Beschlagnahmung und die Weitergabe der eingefrorenen russischen Reserven gegen internationales Recht verstoßen. Kritikerinnen und Kritiker bezeichnen die mögliche Beschlagnahmung als moralisch richtig, aber juristisch, politisch und wirtschaftlich enorm heikel. Auch wenn in der Frage kein Konsens besteht, zeigen unterschiedliche  Rechtsgutachten und Fachbeiträge, dass russische Staatsvermögen völkerrechtlich weder sakrosankt sind noch unter bestehende Investitionsschutzabkommen fallen. Zuletzt hatten zehn renommierte Rechtsexpertinnen und -experten dargelegt, warum das Völkerrecht die Beschlagnahmung und Übertragung der russischen Reserven als legitime Gegenmaßnahmen ermögliche.

Die Europäische Zentralbank und andere Finanzexpertinnen und -experten sorgen sich hingegen, dass die Beschlagnahmung zu einer langfristigen Schwächung des Euroraums führen und die Dominanz westlicher Währungen aufbrechen könnte. Kurz- bis mittelfristig ist diese Befürchtung unbegründet, da es keine echte Alternative zu den westlichen Reservewährungen gibt. Selbst autoritäre Staaten, die fast 40 Prozent der weltweiten Devisenreserven besitzen, entscheiden sich für die stabilen Währungen der G7-Staaten. Im zweiten Quartal 2023 wurden 89 Prozent aller Reserven in US-Dollar, Euro, Yen und britischem Pfund gehalten. Gerade wenn die sieben führenden Industrieländer im Verbund handeln, stellt die Flucht aus den stabilen Währungen kaum eine sinnvolle Alternative dar. Außerdem wird die Frage übersehen, welche Auswirkungen ein Sieg Russlands gerade auch für die Währungsstabilität des Euroraums hätte, wenn weitere Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer vor der russischen Vernichtung in die EU fliehen würden.

Die Konfiszierung der russischen Staatsvermögen wäre keineswegs ein negativer Präzedenzfall.

Andere Kritikerinnen und Kritiker meinen, dass die Beschlagnahmung und der Transfer der Mittel an die Ukraine einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen würden. Zuletzt meldete Politico, dass gerade Staaten wie China und Saudi-Arabien aktiv gegen die Konfiszierungen lobbyieren. Sie sorgen sich, dass ihre Vermögen die nächsten sein könnten. Dabei wäre die Konfiszierung der russischen Staatsvermögen keineswegs ein negativer Präzedenzfall. Ganz im Gegenteil, es würde als Abschreckung gegen weitere Aggressionsverbrechen dienen, die gegen die grundlegende Bestimmung der UN-Charta verstoßen. Die internationale, auf Regeln basierende Ordnung würde gestärkt werden und weitere Staaten von ungerechtfertigten Angriffskriegen abgeschreckt. Das internationale Recht würde zu einem Mittel werden, um den Aggressor für seine Handlungen zur Rechenschaft zu ziehen und die Opfer zu schützen. Da die Latte für die Konfiszierungen hoch liegt, können sich Länder, die keine umfassenden illegalen Angriffskriege beginnen, sicher sein, dass ihre Währungsreserven sicher sind.

In Deutschland ist insbesondere die Sorge verbreitet, dass Russland Vergeltung üben würde, indem es staatliche und private ausländische Vermögen beschlagnahmt. Da der Rubel keine Reservewährung ist, verfügt Russland über keine nennenswerten staatlichen Vermögenswerte der G7. Jedoch hat Russland bereits westliche Unternehmen illegal beschlagnahmt, etwa Danone, Carlsberg, Uniper oder Wintershall, und wird dies aller Voraussicht nach weiter tun – unabhängig von den Diskussionen über die Konfiszierungen. Noch immer befinden sich Vermögenswerte europäischer Unternehmen in Höhe von über 100 MilliardenUS-Dollar in Russland. Dabei gilt, dass die westlichen Unternehmen mit ihrem Verbleib im Russlandgeschäft nach der russischen Vollinvasion samt Putins neuer Willkürherrschaft ein erhebliches Risiko eingegangen sind. Dies darf staatliches Handeln nicht abschrecken. Die betroffenen Firmen können vor internationalen Schiedsgerichten Schadensersatz gegen Russland einklagen.

Allen voran die USA befürworten die komplette Beschlagnahmung der russischen Staatsvermögen.

Nach intensiven Diskussionen innerhalb der G7 gibt es noch keine Einigung. Allen voran die USA, wo lediglich rund acht Milliarden US-Dollar eingefroren sind, befürworten die komplette Beschlagnahmung der russischen Staatsvermögen. Bereits Anfang des Jahres passierte der Rebuilding Economic Prosperity and Opportunity for Ukrainians Act (REPO) die entsprechenden Ausschüsse des US-Senats, seine Verabschiedung gilt nur noch als Frage der Zeit. Damit könnte die Beschlagnahmung in den USA beginnen.

Auch wegen der Haltung von Deutschland, Frankreich und der Europäischen Zentralbank konnte sich die EU bisher nur darauf einigen, der Ukraine die Zinsen der eingefrorenen Vermögen zur Verfügung zu stellen, etwa drei Milliarden US-Dollar jährlich. Dieser Vorschlag ist ein erster Schritt und besser als nichts. Dennoch ist er unzureichend, um die Ukraine mit den Mitteln auszustatten, die sie zum Überleben braucht, geschweige denn den Wiederaufbau zu finanzieren. Belgien, wo beim Zentralverwahrer Euroclear  200 Milliarden Euro eingefroren sind, hatte bisher lediglich die Zinsen auf die eingefrorenen Vermögen besteuert und nicht die Zinsen selbst an Kiew weitergeleitet, wie es die aktuellen Pläne der EU für 2024 vorsehen. Die Einnahmen der belgischen Steuern auf die Zinsen beliefen sich bisher auf 1,7 Milliarden Euro und wurden zum größten Teil in einen Fonds für die Ukraine gesteckt, um Hilfen für geflüchtete Ukrainer zu finanzieren; lediglich 200 Millionen Euro wurden davon für Waffenkäufe bereitgestellt, weitere 334 Millionen Euro sind für 2024 vorgesehen. 2022 und 2023 haben sich in Belgien Zinszahlungen von knapp fünf Milliarden Euro angesammelt, die Euroclear beziehungsweise Belgien nicht in Gänze freigeben möchte. Damit entgehen der Ukraine fünf Milliarden Euro, mit denen zwei Patriot-Systeme und 750 Abwehrraketen finanziert werden könnten.

Gleichzeitig wurde innerhalb der G7 von Großbritannien die Möglichkeit ins Spiel gebracht, der Ukraine Kredite zur Verfügung zu stellen, die durch das beschlagnahmte russische Staatsvermögen abgesichert werden könnten. Zuletzt hatte sich auch die USA hinter diesen Vorschlag gestellt und vorgeschlagen, die erwarteten zukünftigen Zinszahlungen zu nutzen. So könnten 30 bis 40 Milliarden Euro generiert werden. Eine weitere und weniger von Wechselkursschwankungen betroffene Möglichkeit wäre es, einen europäischen Kredit aufzunehmen, ähnlich wie es in der Corona-Pandemie bereits getan wurde. Mit den Krediten könnte ein deutlich größerer Fonds befüllt werden und die jährlichen Zinskosten dafür mit abgeschöpften Gewinnen beglichen werden. Die aktuellen Zinszahlungen von drei Milliarden Euro würden ausreichen, um den Fonds mit bis zu 150 Milliarden Euro zu befüllen. Mithilfe dieser Konstruktion könnte die EU schnell Geld auftreiben und gleichzeitig wäre diese Konstruktion ein Anreiz für die Europäer, sich in den kommenden Jahren auch wirklich für einen Einzug der russischen Vermögen einzusetzen.

In Deutschland kommt langsam Bewegung in die Debatte.

In Deutschland, das innerhalb der EU nach wie vor als einer der größten Zögerer in der Frage gilt, kommt langsam Bewegung in die Debatte. Im Februar hatte der Bundestag in seinem Antrag zum zehnten Jahrestag des russischen Krieges gegen die Ukraine die Bundesregierung aufgefordert, Initiativen zu unterstützen, um die eingefrorenen russischen Vermögenswerte für die Ukraine rechtskonform und im Einklang mit dem Völkerrecht nutzbar zu machen. Zuletzt hatte sich der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil dafür ausgesprochen, eingefrorenes russisches Vermögen zu verwenden, um Waffen für die Ukraine zu beschaffen. Tatsächlich müssen sich Entscheidungsträgerinnen und -träger gerade in Deutschland der Dringlichkeit der Lage bewusst werden und eine Abwägungsentscheidung treffen. Im Kern handelt es sich nicht um eine rein juristische, sondern auch um eine politische Frage. Die Entscheidung der Beschlagnahmung ist mit rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Folgen verbunden, steht aber der reellen Gefahr gegenüber, dass Russland diesen Krieg gewinnen könnte. Das wäre nicht nur eine empfindliche Niederlage für das Völkerrecht, sondern würde ein größeres Risiko für die europäische Wirtschaft, die Finanzsysteme und die Sicherheit in Europa darstellen.

In einem gemeinsamen Meinungsbeitrag schrieben die Außenminister Großbritanniens und Frankreichs vor Kurzem: „Wenn die Ukraine verliert, verlieren wir alle. Der Preis für die unterlassene Unterstützung der Ukraine wird viel höher sein als der Preis für den Kampf gegen Putin.“ Je länger wir zögern, der Ukraine auch durch die Beschlagnahmung von russischen Geldern zu helfen, desto schwieriger wird die Lage für die Ukraine – und umso größer werden die Kosten des Krieges für Europa.