Der Video-Ausschnitt von Edi Ramas Moderation im UN-Sicherheitsrat machte jüngst nicht nur auf Smartphones die Runde. Für seine souveräne Leitung und die Seitenhiebe gegen Russland erhielt der Premierminister Albaniens international Anerkennung. Neben der nicht-ständigen Sicherheitsratsmitgliedschaft konnte die albanische Regierung auch mit dem OSZE-Vorsitz im Jahr 2020 und mit der Ausrichtung des ersten EU-Westbalkan-Gipfels außerhalb der EU im Jahr 2022 ihre außenpolitische Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Nun steht das nächste hochrangige internationale Treffen in Tirana ins Haus: Am 16. Oktober kommen dort die Regierungschefinnen und -chefs des Berliner Prozesses zusammen. Der anstehende Gipfel kann jedoch nur ein Side Event sein für das, worum es tatsächlich gehen muss: eine konsequente, ernst gemeinte und klare europäische Erweiterungspolitik.

Der 2014 begonnene Berliner Prozess stammt aus einer Zeit, in der die Juncker-Kommission eine EU-Erweiterung in naher Zukunft explizit ausgeschlossen hatte. Die Plattform, an der neben den sechs Westbalkan-Staaten neun EU-Mitglieder und Großbritannien sowie EU-Institutionen und regionale Initiativen teilhaben, war in gewisser Weise ein Lückenfüller. Sie war aber auch das, was unter den damaligen Vorzeichen als Engagement in der Region möglich erschien. Dabei sollte der Prozess keine Alternative zum EU-Beitritt für die Staaten Südosteuropas werden, sondern durch regionale Integration politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt gewährleisten und die Länder damit letztendlich EU-fit machen. Die Wirkung der Initiative blieb jedoch begrenzt.

Mit Blick auf die Annäherung der Region dominierte die Folgejahre eine Politik der kleinen Schritte, des Hinhaltens und der Blockaden vonseiten der EU-Regierungen. Die Von-der-Leyen-Kommission erteilte einer Erweiterung im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin zwar keine generelle Absage. In das Jahr ihrer Amtsaufnahme 2019 fiel dennoch wohl der Tiefpunkt der EU-Integrationspolitik in der Region, als die EU weder mit Albanien noch mit Nordmazedonien Beitrittsgespräche eröffnete. Dies geschah aus vornehmlich innenpolitischen Motiven der Veto-Länder – ohne Rücksicht auf die politischen Prozesse und Anstrengungen in der Region. Die Folgen: Nordmazedonien erlitt eine Regierungskrise, die Regierungen Serbiens, Albaniens und Nordmazedoniens trieben das eigene Integrationsprojekt Open Balkans voran und die EU erlitt einen Glaubwürdigkeitsverlust in der Region, von dem sie sich bis heute nicht so recht erholt hat.

Der Berliner Prozess konnte diese Enttäuschung nicht kompensieren, war dafür aber auch nicht ausgelegt. Dies bedeutet nicht, dass der Prozess keine Erfolge zu verzeichnen hätte. Sein Schwerpunkt liegt auf der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Ein zentrales Ziel ist der Gemeinsame Regionale Markt (Common Regional Market), welcher nicht nur wichtig ist für die Volkswirtschaften der Region, sondern auch ein bedeutender Schritt der Harmonisierung mit dem EU-acquis communautaire, also allen Rechten und Pflichten, die für jedes EU-Mitglied verbindlich sind. Doch obwohl alle sechs Staaten 2020 einer stufenweisen Einführung zugestimmt haben, kommt die Umsetzung sehr langsam voran.

Durch das ursprüngliche Design des Berliner Prozesses, sich am „Machbaren“ zu orientieren, wurde die Auswahl der verhandelten Themen immer technokratischer und begrenzter in ihrem Umfang.

Durch das ursprüngliche Design des Berliner Prozesses, sich am „Machbaren“ zu orientieren, wurde die Auswahl der verhandelten Themen immer technokratischer und begrenzter in ihrem Umfang. Vor allem die weiterhin bestehenden, ungelösten Konflikte verhindern ein substanzielles Vorankommen in der regionalen Integration, was insbesondere aktuell eine schwierige Ausgangslage für das bevorstehende Treffen bedeutet. Unter den Vorzeichen der aktuellen bilateralen Spannungen zwischen Serbien und Kosovo scheint es schon ein Erfolg, wenn denn alle Regierungschefinnen und -chefs in Tirana anwesend sein werden.

Doch gerade in diesem Zusammenhang hat die Initiative zwei wichtige positive Elemente, die insbesondere aktuell stärker betont werden sollten und die auch für die europäische Politik in der Region über den Prozess hinaus von Bedeutung sind. Erstens ist der Wert der gleichberechtigten Kooperation aller Westbalkanstaaten nicht zu unterschätzen. Über die Jahre des Berliner Prozesses sind regelmäßige Treffen zu einer neuen Normalität geworden. Mit Blick auf die aktuellen Eskalationen in der Region ist es von enormer Bedeutung, dass Formate etabliert sind, in denen die Regierungen aller sechs Westbalkanstaaten an einem Tisch zusammenkommen. Im Gegensatz zu Initiativen wie Open Balkans ist die gleichberechtigte Zusammenarbeit und Repräsentation im Berliner Prozess konstitutiv angelegt. Dass die Neuauflage des Berliner Prozesses  ab 2022 Open Balkans redundant gemacht hat, ist in diesem Zusammenhang zu begrüßen.

Der Wert der gleichberechtigten Kooperation aller Westbalkanstaaten ist nicht zu unterschätzen.

Zweitens sieht der Berliner Prozess in der Neuauflage mehr Teilhabe und Initiative bei den Staaten des Westbalkan vor. Das Gipfeltreffen findet zum ersten Mal in der Region statt. Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass die Westbalkanstaaten sich stärker mit dem Prozess identifizieren und auf eigene Gestaltungsräume bestehen. Dies ist besonders dann sinnvoll, wenn diese Verantwortung in der Region auch mit einer anderen Art der Anerkennung vonseiten der EU einhergeht. Die Rhetorik der „gleichen Augenhöhe“ greift in einem Prozess, der stark durch die Hierarchie von Kandidaten und Gemeinschaft geprägt ist, zu kurz. Die EU-Mitglieder sollten jedoch das Regierungshandeln der sechs Westbalkanstaaten anerkennen – anerkennen im Sinne einer Berechenbarkeit und Klarheit der jeweiligen Folgen für eine EU-Annäherung.

Ungeachtet dieser begrüßenswerten Elemente kann der Berliner Prozess nur ein Baustein in einem neuen Ansatz in der Zusammenarbeit zwischen der EU, ihren Mitgliedern und den Staaten des Westbalkans sein. Der Prozess bleibt eine Zwischenlösung. Entsprechend sollte in dieser Phase – in der wieder mehr Bewegung in den Nexus von EU-Reform und EU-Integration kommt – das ambitioniertere Projekt im Fokus stehen: die EU-Erweiterung. Bisher krankte sie daran, dass der Deal „Reformen für Fortschritte“ vonseiten der EU nicht mehr eingehalten wurde. Staaten wie Albanien, Kosovo und Nordmazedonien, die objektiv Fortschritte in ihren Integrationsbemühungen machten (Nordmazedonien änderte sogar den Landesnamen), traten auf der Stelle. Serbien, das unter Staatspräsident Vučić zunehmend autokratisch regiert wird, konnte zwar keine neuen Verhandlungskapitel eröffnen, wurde aber in den EU-Fortschrittsberichten unverhältnismäßig positiv bewertet.

Entsprechend wenig erfolgreich ist die Erweiterungspolitik darin, ihr Potenzial als Transformationsmotor für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auszuschöpfen. Es fehlt die Konsequenz. Funktionieren kann die Integration nur, wenn ihr Pfad klar ist und Fortschritt ein Weiterkommen bedeutet. Gleichzeitig muss auch der Umgang mit Autokratinnen und Autokraten ein anderer werden. Dass diese im Interesse einer vermeintlichen Stabilität als Partner hofiert und mit demokratischen Regierungen gleichgestellt und teils sogar bevorzugt werden, hat sich nicht nur als falsch, sondern als kontraproduktiv erwiesen. Genau durch das Stützen dieser Kräfte ist Nationalismus gewachsen und mit ihm die Gefahr der Instabilität, wie aktuell im Konflikt zwischen Serbien und Kosovo zu beobachten ist. Ethnonationalismus ist kein Gespenst des 20. Jahrhunderts, sondern ein reales Phänomen, dem sich die EU auch in ihren auswärtigen Beziehungen stellen muss. Sicherlich ist für die Staaten des Westbalkans die EU die einzige Option für eine prosperierende Zukunft. Die Schlussfolgerung aus dieser Tatsache, dass alle Entscheidungsträgerinnen und -träger in der Region eine solche gemeinwohlorientierte Zielsetzung verfolgen, ist jedoch falsch.

Eine ernst gemeinte Erweiterungspolitik muss Sanktionen vorsehen, wo europäische Grundwerte missachtet werden.

Eine ernst gemeinte Erweiterungspolitik muss daher vielmehr Sanktionen vorsehen, wo europäische Grundwerte missachtet werden. Ideen der staged accession oder mehrstufiger Mitgliedschaften könnten in diesem Zusammenhang förderlich sein, solange die Vollmitgliedschaft stets für alle ein mögliches Ziel bleibt. Der konsequentere Umgang ist auch daher grundlegend, da neue EU-Mitglieder demokratisch resilient sein müssen. Die Aufnahme von illiberalen Regimen in die EU kann nicht im Interesse Berlins oder Brüssels sein.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat zu einer Neubewertung der Erweiterungspolitik geführt. Sie spiegelt die Zeitenwende wider, wenn auch noch nicht hinreichend. Der europäische Kontinent ist heute ein anderer als zur Genese des Berliner Prozesses 2014, als die Hauptstädte der EU-Mitgliedstaaten von internen Problemen eingenommen waren und offensichtlich davon ausgingen, dass der Westbalkan auch ohne ernsthaftes europäisches Engagement für Einbindung, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – kurz: für eine konsequente Erweiterungspolitik – stabil und fest entschlossen in der EU-Bindung bleiben würde. Heute sehen wir, dass diese Rechnung nicht aufgegangen ist. Es ist absolut zu begrüßen, dass die deutsche und die europäische Politik dabei ist, den Autopiloten in ihrer Politik in Südosteuropa auszuschalten. Eine Abkehr von Pfadabhängigkeiten, wie der bisher praktizierten Appeasement-Politik im Umgang mit Serbien, ist unmittelbar angebracht. Auch sind Impulse wie der kürzlich auf Initiative der deutschen und der französischen Regierung erschienene Bericht zu begrüßen, der konkret beschreibt, wie EU-Handlungsfähigkeit zu stärken, die EU für Erweiterungen bereit zu machen und die Rechtsstaatlichkeit und demokratische Legitimität innerhalb der EU zu festigen sind.

Der Berliner Prozess hat bisher nur begrenzt Fortschritte gebracht. Im Idealfall kann das bevorstehende Treffen dennoch genutzt werden, um eine neue Dynamik zu entfachen, an deren Ende ein glaubwürdiges Angebot der EU-Integration an den westlichen Balkan steht. Denn mehr Anerkennung, Initiative und schrittweise Einbindung der Region wären auch in der Erweiterungspolitik förderlich, um die bisherige Dynamik „Warten auf Brüssel“ zu durchbrechen.

Als erfahrener Gastgeber wird Premierminister Rama sicherlich gut durch die Gespräche führen. Um sicherzustellen, dass nicht nur die Bilder stimmen, sondern auch Fortschritte in der Integration innerhalb der Region wie auch mit der EU erzielt werden können, sollte die deutsche Diplomatie den Gipfel als Auftakt für ein entschlossenes Quartal der Zeitenwende in der EU-Erweiterungspolitik begreifen.