Die Fragen stellten Joscha Wendland und Nikolaos Gavalakis.

Die Welt schaut erneut gebannt auf den Nahen Osten. Ist Irans Angriff ein Wendepunkt im Dauerkonflikt zwischen den beiden Staaten?

Der iranische Angriff auf Israel in der Nacht zum 14. April markiert eine weitere Eskalation. Zusammen mit dem israelischen Angriff auf die iranische Botschaft in Damaskus knapp zwei Wochen davor veränderte er den operativen Modus Vivendi zwischen Iran und Israel. Hatten die beiden Staaten bis dahin die direkte Konfrontation weitgehend gemieden und sich primär auf den Gebieten von Drittstaaten attackiert, ist nun zu befürchten, dass direkte Schläge zwischen beiden Seiten zunehmen, mit erheblichen Konsequenzen für die Eskalationsdynamik in der Region.

Zum ersten Mal hat Iran seinen Erzfeind Israel mit Drohnen und Raketen direkt angegriffen. Was treibt das iranische Regime an?

Teheran fühlte sich offenbar gefordert, nach dem Angriff auf seine Botschaft in Damaskus Stärke zu demonstrieren. Bemerkenswert ist dennoch, dass Iran auf die israelische Eskalation seinerseits mit einer weiteren Eskalation, nämlich dem direkten Angriff, reagierte. Bislang übte sich Teheran, mit den Worten des Regimes, in „strategischer Geduld“ und hielt sich beim Gaza-Krieg ebenso zurück wie im Hinblick auf die israelischen Operationen gegen die Revolutionsgarden in Syrien. Dabei nahm Iran eigene Opfer in Kauf und erhöhte allenfalls auf indirektem Weg den Druck, etwa durch die Unterstützung der jemenitischen Huthi-Miliz bei deren Attacken gegen die Schifffahrt im Roten Meer. Hierbei blieb Teheran stets darauf bedacht, eine offene Konfrontation mit Israel und den USA zu vermeiden.

Insgesamt sieht sich Iran als Gewinner der größeren strategischen Trends und forciert den Ausbau einer Landbrücke über Syrien in den Libanon zur Hisbollah. Diese ermöglicht die kontinuierliche Ausrüstung der Hisbollah mit Waffen, insbesondere Raketen, die Israel aus kurzer Distanz treffen können. Die Konsolidierung der Landbrücke bleibt vermutlich ein strategisches Ziel Irans, weswegen Teheran trotz der Entwicklungen der letzten Tage bis auf Weiteres kein Interesse an einer größeren Konfrontation mit Israel oder den USA haben dürfte.

Das Regime in Teheran macht auf dem Weg zur Atombombe gewaltige Fortschritte. Was würde ein nuklear-bewaffneter Iran für die Sicherheit Israels bedeuten?

Bislang meidet Teheran einen größeren direkten Konflikt mit Israel, denn in der aktuellen Situation wäre Iran der kombinierten Feuerkraft Israels und der USA deutlich unterlegen. Stattdessen setzt die Islamische Republik auf den Ausbau ihrer asymmetrischen Fähigkeiten und unterstützt hierzu eine Vielzahl an verbündeten Milizen. Bislang sind diese Milizen für Teheran eine Rückversicherung gegen einen größeren israelischen oder US-amerikanischen Angriff auf iranisches Territorium.

Irans Beziehungen mit seinen vermeintlichen strategischen Partnern China und Russland sind keineswegs frei von Problemen.

Sollte Iran zur Nuklearmacht avancieren, könnte Teheran allerdings auf eine nukleare Abschreckung setzen und die Fähigkeiten der Milizen stünden für offensive Operationen zur Verfügung. Hierin, und nicht etwa in einem theoretisch möglichen Nuklearangriff Irans auf Israel, liegt die große Herausforderung mit Blick auf das iranische Atomprogramm. Da Teheran in den letzten Monaten seine Nuklearaktivitäten erheblich ausgebaut hat, rückt der Iran immer weiter heran an die Schwelle zur Atommacht. Das Zeitfenster wird kleiner, effektiv gegen das iranische Nuklearprogramm vorzugehen, ob diplomatisch oder militärisch.

Welche Optionen bleiben Netanjahu und seiner Regierung? Ist ein Vergeltungsschlag unvermeidlich?

Israel könnte den Umstand, dass der iranische Angriff fast vollständig abgewehrt werden konnte, als „Sieg“ feiern und es zumindest für den Moment dabei belassen. Aus dem Büro von Premierminister Benjamin Netanjahu hieß es dazu allerdings schon, Israel könne eine solche Attacke nicht unbeantwortet lassen. Israels Dilemma dürfte darin bestehen, dass es kaum auf der gleichen Stufe reagieren kann. Dass Iran einen israelischen Angriff fast vollständig abwehren könnte, wie Israel den iranischen, scheint höchst unwahrscheinlich. Angriffe auf iranische Ziele unterhalb dieser Schwelle gehören indes bereits zum israelischen Vorgehen. Attacken gegen die Revolutionsgarden in Syrien führt Israel bereits seit Monaten immer wieder durch.

Vorstellbar wäre auch ein israelischer Schlag gegen die Hisbollah, Irans Partnermiliz im Libanon. Um als adäquate Reaktion auf Irans Angriff durchzugehen, müsste ein solcher Schlag allerdings deutlich größer ausfallen als der israelische Einsatz bei den aktuellen Scharmützeln mit der Hisbollah. Jedoch ist die Hisbollah mit ihrem Arsenal von geschätzt über 150 000 Raketen ein Gegner, der empfindlich zurückschlagen könnte.

Einige Experten fordern verschärfte Sanktionen gegen den Iran, andere setzen auf Dialog. Wie sollte sich Deutschland gegenüber Teheran positionieren?

Nicht nur der Angriff auf Israel, sondern auch Teherans Unterstützung des russischen Kriegs in der Ukraine, eine ganz unmittelbare Bedrohung europäischer Sicherheitsinteressen, verdeutlicht die Notwendigkeit, eine europäische Strategie gegenüber Iran zu entwickeln. Ein Denken in Dichotomien, entweder Sanktionen oder Diplomatie, hilft hier allerdings nicht weiter. Mit aller Entschlossenheit und deutlich stärker als bislang muss Teheran überall dort entgegengetreten werden, wo es europäische Werte und Interessen herausfordert. Dabei sind Sanktionen ein Baustein, ebenso wie eine glaubhafte Abschreckung oder Bündnisse mit Staaten, die sich von Iran ebenfalls bedroht fühlen. Gleichzeitig müssen Deutschland und Europa auch in der Lage sein, die eigenen Interessen auf diplomatischem Wege zu befördern. Irans Beziehungen mit seinen vermeintlichen strategischen Partnern China und Russland sind keineswegs frei von Problemen, wie exemplarisch Blicke auf den Südkaukasus oder Chinas Sorge vor einem nuklearen Wettrüsten im Mittleren Osten zeigen. Hier gibt es grundsätzlich Ansatzpunkte für europäische Initiativen.

Für die Positionierung gegenüber Teheran braucht es aber auch eine Debatte über den Umgang mit Zielkonflikten. Wie etwa kann die iranische Zivilgesellschaft unterstützt werden, wenn von Maßnahmen zu ihrer Unterstützung auch das Regime profitiert? Wie kann Druck auf das Regime aufgebaut werden, ohne es noch mehr in die Hände Moskaus und Pekings zu treiben? Erschwerend kommt hinzu, dass derzeit viele potenzielle Partner in der arabischen Welt, allen voran die Golfstaaten, mit Blick auf die deutsche Politik beim Gaza-Krieg eine gewisse Zurückhaltung gegenüber Berlin an den Tag legen.